Kritik der dialektischen Methode von Étienne Balibar aus der Analektik von Enrique Dussel und die Problematik „des Anderen“ als analogisch existierende Leiblichkeit – Giancarlo Castro Salas

In dieser Arbeit findet eine Gegenüberstellung zweier verschiedener politisch- philosophischer Methoden oder Herangehensweisen statt. Auf einer Seite steht die Dialektik der Politik, von Étienne Balibar vertreten. Auf der anderen Seite ist die Analektik von Enrique Dussel. Im Zentrum dieser Debatte steht die proxemic „zum Anderen“, zum Ausgeschlossenen oder “part des sans part“.

Étienne Balibar ist ein französischer marxistischer Philosoph, Schüler von Louis Althusser und neben Jacques Rancière und Alan Badiou gilt er als einer der wichtigsten Vertreter der französischen marxistischen Philosophie.


Die Dialektik zweier von Balibar entfalteter politisch-philosophischer Konzepte werden aus der Sicht der Philosophie der Befreiung (“Filosofía de la Liberación“) betrachtet. Eine Philosophie, die seit Mitte der 70er Jahren aus dem (lateinamerikanischen) epistemischen Ort der Peripherie zu denken angefangen hat (vgl. Mignolo 2012:46). Der wichtigste Vertreter und Architekt der Philosophie der Befreiung ist der argentinisch-mexikanische Philosoph, Theologe und Historiker Enrique Dussel. Diese Philosophie folgt nicht aus einem dialektischen Verständnis der Politik, sondern aus einem
analektischen. Nach der Analyse der Konzepte, dargestellt in Étienne Balibars Buch “Politics an the Other Scene“ (2002), wird dieses neue Paradigma theoretisch vorgestellt.

Balibar betrachtet die Politik als die Artikulation dreier Bedeutungshorizonte oder Konzepte, die die Bedingungen für die Demokratie ermöglichen. Durch eine logische Entwicklung, nämlich die Herstellung von Konzepten, schafft der Philosoph das ethische Panorama: “civility“. Der Prozess der Herstellung oder Bestimmung von Konzepten ist was in dieser Arbeit analytisch kritisiert wird. Balibar entwickelt drei dialektische Konzepte von Politik aus einem logischen und ethischen Rahmen. Erstens die Autonomie der Politik (Emanzipation), zweitens die Heteronomie der Politik (Transformation) und drittens die Heteronomie der Heteronomie (Civility). Balibar beschreibt eine “imaginary dimension“ (2002:1), in dem Identitäten gestaltet werden, die er als “condition of conditions“ oder “other scene“ definiert, um seinen vorgeschlagenen ethischen Horizont zu verstehen und legitimieren zu können.

Étienne Balibar (*1942), französischer Philosoph & Marxist, Foto: Tomislac Medak, Flickr/Wikipedia

Étienne Balibar (*1942), französischer Philosoph & Marxist, Foto: Tomislac Medak, Flickr/Wikipedia

 

I. Balibars Dialektik

Die ersten zwei dialektischen Konzepte bei Balibar: Autonomie und Heteronomie der Politik werden rezensiert. In diesem Teil der Arbeit werden Fragen gestellt und verschiedene Thematiken eingeführt, die zu einer späteren Diskussion und Kritik dienen sollen. Erstens wird konzeptualisiert, was Dussel unter Dialektik versteht.

 

I.1 Dialektik

Die Sphäre der Dialektik ist die ontologische, d.h. “the passage from one horizon of beings to another until it reaches its foundation” (Dussel 1985:157). Die Dialektik bezieht sich, auf semantischer Ebene, auf konkrete Systeme. Enrique Dussel, in Anlehnung an den litauisch-französischen jüdischen Philosoph Emmanuel Lévinas, konzipiert diese Kategorie als „Totalität“. Mit der dialektischen Methode kann die Kohärenz der Politik “in the identity of the system as totality in which all differences (beings, parts, functions) recover their ultimate meaning“ (Dussel 1985:157) gezeigt werden. Dialektik ist folglich “the ontological method of philosophy“ (Dussel 1985:158). Bei der dialektischen Methode wird das System als Ganzes erfasst. Was versucht wird, ist “to situate ontologically every object or thing which appears to me ontically” (Dussel 2003:142).

Was kritisiert wird, ist die negative Dialektik, die bei Balibar sehr präsent ist: die Negation der Negation. Für Dussel diese Methode “has the system as its horizon and can only be transcendent in terms of utopia… The origin of the negation is either the same system or an empty horizon” (2003:143). Diese negative Dialektik ist Kern der Kritik, die in den nächsten Zeilen verarbeitet wird. Folgend wird präsentiert, was der französische marxistische Philosoph unter Autonomie und Heteronomie der Politik versteht.

 

I.2 Autonomie der Politik

Zentral ist die dialektische Aporia intern zum Projekt der Emanzipation, in Anlehnung an den französischen Philosoph Jacques Rancière, der die Unmöglichkeit “of constituting the demos as a totality“ (Balibar 2002:5) erkennt. Rancière theorisiert über die Errichtung des “part des sans-part”, d.h. der Eigentumslosen, der “de-propetiated“. Sie sind keine Subjekte der Politik: sie befinden sich außerhalb der Politik; sie sind aber auch keine Subjekte in der Politik: sie existieren-nicht, sind-nicht. Die Politik errichtet eine “public sphere from which they are excluded, but which would not exist without them” (Balibar 2002:5). Als Folge diese “have-nots” oder nicht-Seiende “cannot, then, be either a whole or a part” (Balibar 2002:5).

Wenn sie nicht zur Totalität gehören oder Teil davon werden können, sind sie keine politischen Subjekte. Die Frage lautet, wie kann diese angestrebte Autonomie (Emanzipation) erreicht werden, wenn sie keine Bürger sind und sogar innerhalb dieser Totalität nicht existieren, aber zur gleichen Zeit Bedingung für die Existenz dieser sind? Dieser “part des sans part“ wird als Ort (“place“) konzipiert, wie Balibar bezogen auf Rancière zustimmt. In welcher Beziehung stehen diese ausgeschlossenen, in der Exteriorität der dialektischen Totalität georteten Völker, zu denen, die sich innerhalb dieser Totalität befinden?

Die Eigentumslosen sind oder werden außerhalb der Totalität platziert? Wer ist verantwortlich für diese Ausgrenzung? Mit dieser Konzeption der Dialektik unterscheidet man die Akteure der politischen Szene, die ungerechte Platzierung wird aber nicht hinterfragt. Im zweiten Teil dieser Arbeit werden die Grenzen der dialektischen Totalität in den Fokus gebracht.

Die Politik der Emanzipation der Ausgeschlossenen des universalen Rechts auf Politik, hat nach Balibar die “battle against the denial of citizenship” (2002:6) als Grundlage. Balibar beschreibt die Selbst-Repräsentation der ausgeschlossenen Völker als “the people of people“ oder unter marxistischer Terminologie als universale Klasse, als eine Ambivalenz der Beherrschten. Er erklärt, diese „Ambivalenz“ auf diese Art: die Autonomie der Politik “presents itself as a negation”, so muss die Politik der Autonomie “present itself in turn as a negation of the negation, and thus as an absolute” (Balibar 2002:7).

In dieser geübten Dialektik steckt die westliche ontologische Konzeption „des Anderen“, des Ausgeschlossenen, des Teil keines Teiles, des Eigentumslosen, der Existenz dieser Völker. Die Konzeption fasst sie als Ort und nicht als Körper auf, als Wort und nicht als Fleisch. Ausgeschlossene, die sich in der materiellen und politischen Exteriorität befinden, aber zur gleichen Zeit innerhalb der dialektischen Totalität der Herrschenden, die sie als Möglichkeitsbedingung ihrer sogenannten „universalen“ Politik erfassen und gleichzeitig als Unmöglichkeitsbedingung dieser Politik verdammen.

Zur „Ambivalenz” der Herrschenden, behauptet Balibar, dass Beherrschung auf “the ideological universalization of its principles” (2002:7) beruht, aber die „herrschenden Ideen”, die der Beherrschten (und nicht der Herrschenden) sein müssten. Die Ideen “which state their theoretical right to recognition and equal capacity” (Balibar 2002:7) sind, so nach Balibar, die Quelle des Projekts der Emanzipation. In anderen Worten, es sind keine körperlich leidenden, beherrschten, unterdrückten Subjekte, die aus ihrer Nicht-Existenz und anscheinend unmöglichen Unabhängigkeit zur Totalität, ihre Ideen vermitteln. Die Frage ist, wie kann diese Äußerung von Ideen aus diesem epistemischen Ort geschehen? Balibar überspringt diese Begründungen.

Was mit dieser Dialektik geschafft wird, ist die Bestätigung der dialektischen Existenz der Nicht-Existierenden, nämlich im Diskurs, in der Dialektik, welcher der einzige

„Ort“ zu sein scheint, wo sie existieren können und woraus sie sich manifestieren können. Dieser Ort der “have-nots“, des “part des sans part“, sollte als praktische Wirklichkeit gelten, woraus die Gleichheit und Freiheit proklamiert werden sollte, erklärt Balibar. Problematisch ist, dass der Äußerungsort nicht der Körperlichkeit der Unterdrückten entspricht, er ist innerhalb einer Dialektik und nicht außerhalb (entspricht nicht einer analogischen Dialektik oder einer in der Exteriorität existierenden Totalität).

Die Existenz dieser ausgeschlossenen Menschen wird negiert und das Projekt der Emanzipation wird durch die Negation dieser Negation begründet. Was die Philosophie der Befreiung postuliert, ist die Affirmation dieser externen Totalität als Ausgangspunkt einer möglichen und legitimen Negation der Negation. Mit der Grundlage einer negierten Subjektivität und Körperlichkeit kann ein Mensch oder ein Volk nur dialektisch emanzipiert werden, und nicht aus ihrer körperlich grundierten Existenz, in anderen Worten, aus der Materialität, real befreit werden.

 

I.3 Heteronomie der Politik

Balibar entfaltet seine Dialektik weiter. Diesmal mit der „Diesseits“-Politik, mit dem Konzept von Heteronomie der Politik, mit der Transformation als Erweiterung des Projekts der Emanzipation.

Balibar beginnt mit einer Diskussion über Marx. Nach Balibar konzeptualisiert Marx die Autonomie der Subjekte als ein “becoming-necessary of liberty”-Projekt. Seine Kritik richtet sich auf die Autonomie, die nicht als “prior assumption“ (Balibar 2002:10) verstanden wird. Für Marx sind die Bedingungen, die transformiert werden müssen (politische Praxis für eine Praxis der Befreiung) rein ökonomisch (wichtig: nicht wirtschaftswissenschaftlich). Balibar situiert sich außerhalb der Marx’schen Theorisierungen und negiert damit diese Not für Freiheit und Autonomie des Volkes. Wie kann Autonomie von ausgeschlossenen Völker erlangt werden? Wenn die Universalität der Rechte ”always referring these back to an ever-available transcendental origin” (Balibar 2002:10) ist, aber nicht von allen genossen wird. Wo befindet sich dieser “ever-available transcendental origin“ in der Negation der Politik? Wo befindet sich diese Quelle, wenn nicht nur innerhalb der Totalität, die ausschließt?

Weiter mit der Entwicklung des Heteronomie-Konzepts behauptet Balibar, dass “nothing, then, is more absurd –widely held as the idea may be – than to believe such a politics to be “subjectless”” (Balibar 2002:12). Diese Thematik wird im zweiten Teil genauer gedeutet und erweitert. Kern zum Konzept des politischen Subjektes ist die Idee des Widerspruchs. Im Prozess der Veränderung der Dynamik der ökonomischen Prozesse wird die historische Tendenz “by the action of an equally immanent counter- tendency” stoßen (vgl. Balibar 2002:13). Wesentlich, um eine mögliche Kritik an Étienne Balibars Dialektik und eine Kritik ihrer Grenzen zu zeigen, ist das Verständnis der dialektischen Beziehung zwischen tendency und counter-tendency: “the two are in reality one and the same” (Balibar 2002:16). Ausführlich erläutert wird dieser Aspekt im nächsten Teil der Arbeit, indem herausgestellt wird, was von dieser dialektischen Beziehung wichtig für die Konzeptualisierung der westlichen Ontologie ist.

”The process of ongoing contradiction, in which tendency and counter-tendency do battle or negate each other, is an endless spiral” (Balibar 2002:13). Beide Tendenzen stehen in Wechselbeziehung innerhalb einer Totalität, behauptet Balibar. Der Klassenkampf ist demnach “a process of winning and recovering the positions of power occupied by the opposing class” (Balibar 2002:13). Balibar vermutet, dass beide „antagonistischen” Klassen oder politischen Subjekte sich gegeneinander negieren. Das würde heißen, dass beide schon affirmiert worden sind und die Macht wiederhergestellt werden kann. Die Konzeptualisierung stammt aus einer Sicht, nach der keine dieser Gruppen außerhalb der Totalität steht. Die Frage sollte negativ umgestellt werden, die Umformulierung wäre eigentlich: den Prozess als Verlieren oder Verschlechtern der Machtpositionen zu betrachten, die von der entgegengesetzten Klassen besetzt sind und werden.

Für Balibar ist die Dialektik der entgegengesetzten Tendenzen eine ”dissociation of the antagonistic modes of socialization“, diese sind nicht extern zueinander, sondern einfach “incompatible modes of existence“. Diese andere Tendenz wird als Teil der gleichen Dialektik, d.h. der gleichen Ontologie erfasst. Ihre Existenz wird aber zu einer dialektischen externen Existenz innerhalb der Totalität reduziert. Das Anderssein dieser Tendenz wird ontologisch erfasst. In diesem Fall werden von Balibar als Gegen-Tendenz, antagonistische politische Akteure bezeichnet.

Nach Balibar könnte man „wählen“ wozu man gehören will. Man könnte auch Teil der ”free association of producers“ werden, die vermutlich für alle zugänglich wäre, auch für diesen „Teil keines Teiles“ -politischer Subjekte (die ”in reality one and the same“ sind). Die dissociation, die Balibar erklärt, setzt keine erste und fundamentale schon gelungene dissociation eines Teiles der Bevölkerung voraus (vgl. 2002:13).

Das Konzept von Transformation wird durch die Problematik von civility erweitert, das in dieser Arbeit nicht analysiert wird.

 

II. Philosophie der Befreiung

Anhand die Theorisierungen von Enrique Dussel, wird die Dialektik von Étienne Balibar problematisiert. Die philosophischen Bearbeitungen werden unter einem ethischen Rahmen behandelt. Jenseits (ana-) der Dialektik von Balibar steht, was Dussel und andere Vertreter der Philosophie der Befreiung als „Analektik“ (”analéctica“) genannt haben. Diese wesentliche Methode ist transontologisch und erkennt eine Exteriorität, in der der Andere (als Gegentendenz, als Ausgeschlossenes, als “part des sans part“) sich befindet. Die wesentlichsten Konzepte werden im Folgenden eingeführt. Ein direkter Übergang zu den theoretischen Rahmen und Kategorien der Philosophie der Befreiung findet ab diesem Teil statt.

 

II.1 Analektik

Anhand verschiedener Konzepte und Begriffsdefinitionen wird erklärt, was unter „Analektik“ zu verstehen ist.

II.1.1 Der Andere

Jenseits der ontologischen Totalität, am Horizont des Systems, erscheint der Andere nicht als bloße Erscheinung, sondern als Epiphanie, als ein Mensch, der Gerechtigkeit fordert. Die Phänomenologie beschäftigt sich mit Erscheinungen am Horizont der Welt und des Seins. Die Epiphanie ist dagegen “the revelation of the oppressed, the poor” (Dussel 1985:16), keine bloße Erscheinung und kein Phänomen. Sie bewahrt vielmehr eine metaphysische Exteriorität. Epiphanie wird von Dussel als Anfang einer echten Befreiung konzipiert. Was bedeutet das?

Die moderne europäische Erfahrung hat eine Betonung auf die Mensch-Natur Beziehung gegeben. Das Sein wurde als ”light or cognition (cogito)“ (Dussel 1985:16) verstanden. Die Welt und die Politik wurden ”in terms of the seen, the dominated, the controlled” (Dussel 1985:16) definiert. Man kann den philosophischen Diskurs anders strukturieren, nämlich beim Betonen der Räumlichkeit (proximity, fareness) des Politischen und der Mensch-Mensch-Beziehung.

”To approach in justice is always a risk because it is to shorten the distance toward a distinct freedom” (Dussel 1985:17). Das Näherkommen oder proxemic, wie es Dussel nennt, ist ein „archaischer“ Akt, d.h. ein Auftreten vom Jenseits der Entstehung der Welt. “To approach the immediacy of proximity is the anteriority of all other anteriority” (Dussel 1985:17). Die Praxis der Näherung (die proxemic) ist in die Herangehensweise des Selbst hin zu den Sachen involviert. Das Herangehen ist dann

„toward the very archeology of metaphysical discourse“ (Dussel 1985:18) näher zu kommen: dies ist ein politischer Akt.

Der Andere gegen das unterdrückende System ist “the metaphysical reality beyond the ontological being of the system” (Dussel 2003:139). Dieser metaphysische „Ort“ wird von Dussel als „Exteriorität“ definiert. Beim Entfremden eines Anderen, durch kapitalistische Ausbeutung, durch “the creation of disposable man“ (nach Balibar zitierte Bertrand Ogilvies Formulierung), durch die Errichtung des “part des sans part“, wird metaphysischerweise von ihm das Gleiche gemacht, nämlich ”a mere functional part within the system“ (Dussel 2003:140). Beim Verkaufen der eigenen Arbeit wird der Andere zu einem Lohnempfänger und daher abhängig zum Sein des Kapitals. Wie ist dieses Konzept in Beziehung zur „Totalität“ zu verstehen?

Wenn man sich von der Nähe der Menschen entfernt, dann erscheinen Objekte, Wesenheiten in unbegrenzter Mannigfaltigkeit. Diese Momente sind nicht isoliert, sie sind immer innerhalb eines Systems zu verstehen (Teil einer Totalität) ”that includes, embraces and unifies them organically“ (Dussel 1985:22). Sie haben eine bestimmte Funktion inerhalb dieses Ganzen. Die Ebene der Seiende ist die proxemic, erklärt Dussel, während die Ebene des Seins eine Totalität ist: die ontologische Ebene.

 

II.1.2 Exteriorität

Denker der Philosophie der Befreiung verstehen die Exteriorität nicht innerhalb der Totalität des Seins, sondern jenseits des Horizonts des Seins, an dem Ort, in dem ”persons as free and not conditioned by one’s own system and not as part of one’s own world, reveal themselves” (Dussel 1985:40).

Jenseits des Horizonts des Seins gibt es noch Wirklichkeit. In diesem Horizont, jenseits der Bedeutungszuschreibungen einer Person selbst, manifestiert sich der Andere als Anderer. Dieser Andere besitzt metaphysische Exteriorität als ein autonomes Wesen und als unabhängige Totalität. Diese Logik drückt sich über die Freiheit des Anderen aus.

Die Logik der Totalität (die ontologische) ist basiert auf Identität und Differenz, die im Gegensatz zum analektischen Moment, eine ”reification of alterity, of the other person“ (Dussel 1985:42) schafft. Die Exteriorität wird entfremdet. „Hunger as such is the practical exteriority of, or the most subversive internal transcendentality against, the system: the total and insurmountable „beyond“” (Dussel 1985:42). Der „Ort”, um Rancierès Terminologie zu benutzen, woraus der Andere konzeptualisiert und erfasst wird, ist eine praktische existente Exteriorität, wie Dussel ganz klar deutet.

Nach Dussel denkt die Metaphysik, im Gegensatz zur Ontologie, aus der Exteriorität des Anderen und aus ihrer ontologischen Negativität. Diese Exteriorität des Anderen, wie Dussel kritisiert, wurde und wird nicht respektiert. Die Exteriorität wird totalisiert und von einem Anderen instrumentalisiert; so wird sie vom Sein (Totalität) entfremdet, statt in seinem Anderssein erfasst zu werden. Entfremdung heißt ”to totalize exteriority, to systematize alterity, to deny the other as other” (Dussel 1985:53). Nach dem kolumbianischen Philosophen Eduardo Mendieta, einer der Vertreter der aktuellen lateinamerikanischen Philosophie: “In Dussel’s works […] Western thought is seen as the succession of dialectically produced and maintained totalities, whose very constitution and preservation has been predicated on the

exclusion of an abject alterity: a vilified, despised, exploited, annihilated other” (Mendieta 2003:5).

Der ethos des Menschen, die historische Näherung oder “face-to-face” (unter lévinasianische Terminologie) exisiert vor der Welt. ”The face-to-face that welcomed us with a cordial smile or harmed us with the rigidness, harshness, or violence of traditional rules” (Dussel 1985:19). Die Wirklichkeit des Anderen geht dem Sein zuvor. Die Nähe beschreibt die ”first (archeological) and last (eschatological) fullness“ der Menschen.

Enrique Dussel (*1934), argentinischer Philosoph, Historiker & Theologe, Foto: gemeinfrei/Wikipedia

Enrique Dussel (*1934), argentinischer Philosoph, Historiker & Theologe, Foto: gemeinfrei/Wikipedia

 

II.1.3 Analektische Methode

Zur schon erwähnten analektischen Methode oder Moment, erklärt Dussel, dass dies “refers to the real human fact by which every person, every group or people, is always situated “beyond” (ano-) the horizon of totality” (Dussel 1985:158). Eine neue metaphysische Sphäre, jenseits der negativen Dialektik von Balibar, wird in der Exteriorität des Anderen geschaffen.

Kritisches Bewußtsein kann nur durch die ethische Anerkennung der Interpellation des Unterdrückten und durch eine Vermittlung vom befreiender Praxis geschehen, die Voraussetzung für das Erreichen der Exteriorität ist. Die transontologische Stimme des Anderen sollte gehört werden und durch Analogien sollte seine Botschaft interpretiert werden. Aus der Affirmation der Totalität wird die Negation negiert. Der analektische Moment stellt zunächst die Affirmation der Exteriorität dar, als Möglichkeitsbedingung für eine zukünftige Negation der Negation. Dies bedeutet, in Dussels Worten:

„The overcoming of totality from internal transcendentality, from exteriority that has never been within. To affirm exteriority is to realize what is impossible for the system (there being no potency for it); it is to realize the new, what has not been foreseen by the totality, that which arises from freedom that is unconditioned, revolutionary, innovative” (1985:160).

 

Diese Methode beginnt mit der analektischen Affirmation der Exteriorität des Anderen, ”through whose project of liberation the negation of the negation and the building of new systems is put into effect” (Dussel 2003:143). Es ist eine analogische Realisierung eines neues Systems.

Jede ontologische Totalität ist totalitär (vgl. Mendieta 2003:5). Insofern ein dialektisches Herangehen zu dieser entsteht, wird man innerhalb ihrer Sphäre und Beherrschung bleiben. “To break free of their coercion and subjugation, we must open ourselves to the other from the standpoint of the other. We must think, hear, see, feel, and taste the world from the standpoint of the other. This is the analectical moment” (Mendieta 2003:5).

 

III. Kritik an Balibars Dialektik

III.1 Marx’sche Aspekte

Balibar, als marxistischer Philosoph, bezieht sich in seiner Dialektik ganz explizit zu Marx. Marx, wie Lévinas, spielt eine fundamentale Rolle zum Verständnis der Philosophie der Befreiung. Nach Dussel verfolgt Marx “the articulation of philosophy within a critical-ethical-horizon, and not merely an analytical or dialectical system of contemplation within and from the inside of the prevailing system” (2013:224). Seine kritische Ethik schlägt eine Transformation vor und übernimmt die Perspektive des Opfers.

Hunger, wie schon erläutert, ist von Dussel als praktische Exteriorität des Systems verstanden (vgl. 1985:42). In Bezug auf Marx, behauptet Dussel, dass “the degree to which the fulfillment [Verwirklichung] of the demands of labor implies the denial of the worker’s own fulfillment [Entwirklichung] is evident, since he or she is ultimately denied in this sense all the way to the extreme of dying of hunger [Hungertod]” (Dussel 2013:226). Nach Dussel erkennt Marx den kritischen Moment als a posteriori. Die von ihm vorgeschlagene materiell-ethische Alternative muss sich auch aus diesem Ausgangspunkt entfalten, nämlich, aus der affirmativen Kritik der Reproduktion des Menschenlebens. Nach dieser ersten Affirmation könnte dies erst zu einem späteren Moment, in dem die eigene Negation offenbart wird, stattfinden.

Balibar distanziert sich von Marx, indem er die Not für Freiheit (becoming necessary of liberty“) ablehnt, die bei Marx’schen Theorisierungen zu finden ist. Diese Not existert schon, weil es erstmal eine ”negation in the first instance of the victim of capital, as a kind of incorporation (intratotalization) of the “exteriority” of living labor into the “totality” of capital” (Dussel 2013:230) gibt. Die Transformation der lebendigen Arbeit (Marx’sche Kategorie) zur Lohnarbeit stellt the process of totalization“ (Dussel 2013:230) aus der Perspektive der Exteriorisierung der Subjektivität des Arbeiters dar. Das wird von Dussel, in Bezug auf Marx, als Subsumtion oder Entfremdung des Arbeitsprozesses verstanden. Diese „Inversion” ist fundamental für die Reproduktion des Kapitals selbst. Dussel erkennt die Kategorie von “Mehrwert“ bei Marx als die kritischste Kategorie. Die Lebendige Arbeit wird im Kapital formally subsumed“ (Dussel 2013:230) (im materiellem Sinne), sodass es Mehrwert produziert und Maschinen die Führung des Produktionsprozesses übernehmen. “Value is human life transformed into an objective reality” (2013:231), affirmiert Dussel.

 

III.2 Das Subjekt

Bei Balibar sowie bei Dussel existiert das Subjekt als solches. Dussel versteht die ausgeschlossenen, peripheren Völker nicht als Ort, wie Rancière, sondern als Leiblichkeit (”bodily reality“). Die Negation dieser Leiblichkeit wird durch das materielle, körperliche Leiden der Unterdrückten gezeigt. Sie wurden nicht nur als “part des sans part“ errichtet, sondern ihnen wurden und werden ihre Rechte auf Reproduktion und Entwicklung des Lebens negiert, weggenommen (vgl. Dussel 2013:215). Die Opfer werden als negierte Subjekte (die nicht leben können) anerkannt. Sie existieren als soziale und historische (nicht-metaphysische) intersubjektive Gemeinschaften oder Bewegungen und koexistieren in der Exteriorität aller Totalitäten (vgl. Dussel 2013:375).

Nach Franz Hinkelammert, Vertreter der Theologie der Befreiung, ist das Leben als

„Selbst-Bewahrung-als-Subjekt“-Projekt zu konzipieren (vgl. 1996:39). Beim Prozess der Ausschliessung verliert der Ausgeschlossene sein kritisch-ethisches Bewußtsein.

Dieser Moment wird von Dussel als Ausgangspunkt einer strategisch, ethischen Reflektion konzeptualisiert. Diese Thematik wird ausführlich von der Befreiungsethik behandelt.

 

III.3 The one and the same

Balibar beschreibt die counter-tendency jeder tendency als “one and the same” (2002:16). Bei Dussel, ist das Subjekt ein Subjekt, das in einer Welt voller Bedeutung lebt, “with memory of their ventures, with a culture, and with the community of the “we-are-existing” (nosotros-estamos-siendo) as “re-sistant” reality” (2013:299). Diese “re-sistant” Realität wird aber als das Gleiche innerhalb der Dialektik von Balibar erfasst. Was heißt das?

Nach den Worten des argentinischen Semiologen Walter Mignolo ist die Totalität nach Dussel “composed by „the same“ and „the other.”[…] Dussel called it „the Same”” (2000:175). Mignolo erklärt weiter: “Outside totality was the domain of „the other.“ The difference in Spanish was rendered between lo otro, which is the complementary class of „the same“ and el otro relegated to the domain exterior to the system” (2000:175).

Die westliche Ontologie schafft das Subsumieren von “the Other under the Same” (Dussel 1995:45). Nach dieser Konzeption entfaltet Dussel was er als encubrimiento“ („Verdeckung“) des Anderen nennt, wobei der Andere unter einer „universalen“ neutralen Lupe beurteilt wird. Diese Meta-Erzählung oder interne Kritik bleibt isomorphisch. Mignolo benennt diese “lo otro” als “interior”, und “el otro” als “exterior” Subalternität. Der Unterschied ist hinsichtlich eines gesetzlichen und ökonomischen Rahmes:

“Socially and ontologically, the exteriority is the domain of the homeless, unemployed, illegal aliens cast out from education, from the economy, and the laws that regulate the system. Metaphysically, „the other“ is from the perspective of the totality and the „same“- the unthinkable that Dussel urges us to think” (Mignolo 2000:175).

Die Entfremdung des Anderen bedeutet, so Dussel, metaphysically making it “the same,” a mere functional part within the system. […] The “other” (who is free) becomes other than himself or herself, a thing” (2003:140). Das ist der Grund, warum ganz fokussiert der metaphysische Ort des Anderssein, der Exteriorität, betont wird. Die Affirmation der Exteriorität ist zentral bei Dussel. Diese gilt als Ur-Moment der negativen Dialektik von Balibar:

“Alles beginnt mit einer Affirmation. Die Negation der Negation bildet das zweite Moment. Wie wird man die Missachtung des Eigenen negieren können, wenn man nicht zunächst selbst entdeckt, dass man wetvoll ist? Das meint eine Affirmation einer prozessualen und auf die Moderne reagierenden Identität. Die postkolonialen Kulturen müssen tatsächlich entkolonialisiert werden, doch dazu müssen sie damit beginnen, sich selbst Wert beizumessen“ (Dussel 2012:170).

 

Die “counter-tendency“ wird nicht als andere tendency anerkannt und deswegen de- legitimiert. Sie wird nur als „eine andere“ (lo otro) tendency innerhalb der Dialektik der Politik betrachtet. Zusammengefasst, wird sie nicht in ihre Exteriorität als andere analogisch-dialektische Tendenz (el otro) anerkannt.

 

IV. Schluss

In dieser Arbeit wurde eine theoretische Einführung zu der Philosophie der Befreiung bearbeitet. Als Anfangspunkt sind zwei Konzepte, Kern der Dialektik der Politik von Étienne Balibar, genommen, analysiert und kritisch betrachtet worden. Aus diesen Formulierungen sind mehrere Fragen entstanden, die als Einführung der späteren Problematiken gedient haben. Im Zentrum dieser Diskussion ist der Andere als trans-ontologisches Opfer des Systems oder der herrschenden Ontologie behandelt.

Die Dialektik wird zuerst der Analektik gegenübergestellt. Balibars Dialektik der Politik wäre nur als eine Instanz der analektischen Methode zu verstehen. Auf den ersten ethischen Moment der Affirmation wurde der Fokus gelegt. Die Ontologie wurde als nächstes von der Metaphysik in Frage gestellt, wie es von Enrique Dussel verstanden wird. Bestimmte verarbeitete Konzepte von Marx wurden thematisiert. Die Interpretation der Marx’schen Werke wurde aus Étienne Balibars Sicht erläutert sowie ihre Wichtigkeit für die philosophischen (und politischen) Ansätze der Philosophie der Befreiung. Es wurde eine neue Konzeption der Körperlichkeit der Opfer eingeführt, angefordert und unterstützt.

Balibar gehört zu den Kritiker der Moderne, befindet sich aber nicht in der unterdrückenden Peripherie. Er spricht aus dem Zentrum der Ontologie, die den Anderen nur als Ausgeschlossenen innerhalb der Totalität des Seins, des Kapitals, usw. versteht. Die Philosophie der Befreiung artikuliert sich aus dem epistemischen Ort des Anderen der westlichen politischen Philosophie : aus Asien, Afrika oder Lateinamerika (aus den von der Moderne ausgeschlossenen Denktraditionen und Kulturen). Die Konzeptualisierung geschieht hier nicht über wegwerfbare Menschen, sondern über ungerechterweise, ausgeschlossene Leiblichkeiten, die das Leiden in ihrer Körper wahrnehmen, fühlen und erleben. Deren Existenz ist das kritische Kriterium der Widerlegung des aktuellen Systems, das die Reprodukion und Entwicklung ihres Lebens verhindert, wie es schon erläutert und kritisiert wurde.

Von den Marx’schen und Lévinasianische Formulierungen, zieht die Philosophie der Befreiung wichtige Fundamente, die die Würde des Menschen als Mensch anerkennen, seine ungerechte historisch-politisch epistemische Lage kritisiert und ein neues Projekt ausarbeitet. Ziel dieses Projekts ist ihre Befreiung.

 

V. Bibliographie

Balibar, Étienne

2002 Three Concepts of Politics: Emancipation, Transformation, Civility, in: Politics and the Other Scene. Translated by Christine Jones, James Swenson and Chris Turner. London: Verso, S.1-39.

 

Dussel, Enrique

1985 Philosophy of Liberation. Translated by Aquilina Martinez and Christine Morkovsky. New York: Orbis Books.

 

1995 From the Conquest to the Colonization of the Life-World, in: The Invention of the Americas: Eclipse of „the Other“ and the Myth of Modernity. Translated by Michael D. Barber. New York: Continuum, S. 37-48.

 

2003 An Ethics of Liberation: Fundamental Hypotheses, in: E. Mendieta (Hrsg.): Beyond Philosophy. Ethics, History, Marxism, and Liberation Theology. Oxford: Rowman & Littlefield, S. 135-148.

 

2012 Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen. Übersetzt von Christoph Dittrich. Wien: Turia + Kant.

 

2013 Ethics of Liberation: In the Age of Globalization and Exclusion. Translated by Eduardo Mendieta. London: Duke University Press.

 

Hinkelammert, Franz

 

1996 El mapa del Emperador. San José: DEI. Mendieta, Eduardo

2003 Introduction, in: E. Mendieta (Hrsg.): Beyond Philosophy. Ethics, History, Marxism, and Liberation Theology. Maryland: Rowman&Littlefield, S. 1-20.

 

Mignolo, Walter

2000 Local Histories/Global Designs: Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking. Princeton: Princeton University Press.

 

2012 Epistemischer Ungehorsam: Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Übersetzt von Jens Kastner und Tom Waibel. Wien: Turia + Kant.